Chaosfeen
von Kassandra O'Lennox aus Aslaug


Sehr geehrte Direktorin,

ich möchte mich für die fehlenden Hausaufgaben entschuldigen, die ich während des letzten Schuljahres hätte abliefern müssen. Es tut mir Leid, dass ich meiner Pflicht als Schülerin von Mandragoras nicht hinreichend nachgekommen bin, doch ich hoffe, Sie werden verstehen, wenn ich Ihnen im Folgenden die Umstände erläutert habe.
Wie sie vielleicht wissen, bin ich Halbblut, mein Vater ist ein Muggel, meine Mutter eine Hexe. Sie sind jedoch geschieden und wir haben seit Jahren nichts mehr von meiner Mutter gehört, weshalb ich mit nichts weiter als einigen versehentlich herausgerutschten, verwirrenden Äußerungen meines Muggelvaters über die Zaubererwelt aufwuchs. Bevor ich nach Mandragoras kam, hatte er seit dem Verschwinden meiner Mutter keinerlei Kontakte mehr zu irgendetwas gehabt, dass mehr Magie in sich trug als eine Mikrowelle, und aus dem Bisschen, was sie ihm während der relativ kurzen Beziehung offenbart hatte, entwickelte er im Laufe der Jahre sehr beeindruckende und fantasievolle, allerdings, wenn man sich ein bisschen mit den Fakten der Zauberwelt auskennt, höchst unrealistische Geschichten. Er selbst hält diese jedoch für die reine Wahrheit und sich selbst für eine Art Experten für alles Übernatürliche, weshalb er im letzten Jahr in einer Seitengasse von Hamburg drei, wie er mir in einem Brief berichtete „irgendwie schimmernde Eier, jedes so groß wie ein Kiesel“ (was natürlich eine sehr präzise Beschreibung ist) von einem mysteriösen Fremden kaufte.
Ich schickte ihm natürlich sofort per Expresseule einen Heuler erster Stufe, in dem ich ihm deutlich klarmachte, dass er diese Eier umgehend loszuwerden hatte, und erhielt eine sehr reuevoll klingende Antwort. Ich gebe zu, dass ich mich näher mit dem Vorfall hätte befassen müssen, aber ich wurde von verschiedenen persönlichen Umständen abgelenkt und erklärte die Sache für überstanden.
Etwa drei Wochen später erhielt ich einen … Brief, wenn man einen von einer Altersschwachen Fledermaus beförderten blauen Küchenlappen mit der hastig gekritzelten Aufschrift „HILFE“ denn einen Brief nennen kann, und dachte mir gleich, was vermutlich passiert war. An dieser Stelle muss ich mich zu einer weiteren gebrochenen Schulregel bekennen und sie um Verzeihung ersuchen, denn ich nutzte die Tatsache, dass es sich um eines der Willows-Creek-Wochenenden handelte, um das Schulgelände zu verlassen und mit dem Fahrenden Ritter zur Wohnung meines Vaters zu gelangen.
Dort fand ich meine schlimmsten Vorahnungen bestätigt: Die Wohnung surrte vor lauter kleiner, blau-lila schimmernder Chaosfeen! Das heißt, jetzt weiß ich, was sie waren, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung und konnte natürlich auch nicht wissen, dass man sie mit von Chilipulver durchsetztem Honig ganz einfach besänftigen kann. Nein, alles, was ich wusste, war, dass ein Schwarm wütend summender kleiner Dinger auf mich zugeschwirrt kam und mir mit Fäustchen und Zähnen drohte, während mein Vater mit einem Baseballschläger in der Luft herumfuchtelte und dadurch nur erreichte, dass sie noch wütender wurden. Mir blieb gar keine Zeit zum Nachdenken, ich konnte nur auf meinen gesunden Instinkt hören. Natürliche Reaktion bei Bedrohung durch bösartige fliegende Wesen: Tür wieder zu.
Da stand ich dann also vor der geschlossenen Wohnungstür, lauschte dem hässlichen Geräusch, als Dutzende Feen gegen die Tür knallten und dem gedämpften, aber nichtsdestotrotz einschüchternden Summen der Übrigen. Nachdem ich eine Weile dagestanden und mich einigermaßen beruhigt hatte, begann ich, über Vorgehensweisen nachzudenken. Ich atmete mehrmals tief durch, bevor ich ein zweites Mal die Tür öffnete. Als dieses Mal die Feen auf mich zuschossen, bombardierte ich sie mit einigen bescheidenen Abwehrzaubern, die wir in Verteidigung gegen die dunklen Künste gelernt hatten – aber da ich erst im dritten Jahr bin, war mein Repertoire in dieser speziellen Situation mit ‚Protego’, ‚Stupor’ und ‚Petrificus Totalus’ aufgebraucht, die, wie ich relativ schnell feststellte, nur wenig brachten: Die Viecher dachten gar nicht daran, sich schocken zu lassen, die Ganzkörperklammer wirkte nur eingie Augenblicke lang, bevor sie sie mit einem Ruck abstreiften, und mein Protego funktionierte nicht richtig, sodass er mich nur solange schützte, wie ich es unterließ, weitere Zauber abzufeuern – die Feen scherten sich indessen gar nicht darum, sondern flogen einfach seitlich daran vorbei. Ich versuchte es mit einem Patronus, den durchzuführen wir dieses Jahr gelernt haben, aber ich brachte nur einen halbgestaltlichen Waschbären heraus, der etwa fünf der Feen wirkungsvoll in ein Duell verwickelte, was den Rest aber nicht im Mindesten beeindruckte. ‚Peskipiksi pesternomi’ hätte ich noch bieten können, aber ich bezweifelte, dass das irgendeine Art von Wirkung haben würde, wenn nicht sogar eine negative.
Also wurde ich kreativ und verfiel auf den ‚Ratzeputz’, musste aber feststellen, dass dieser nicht für Lebewesen gilt, und auch ‚Duro’ funktionierte ebenso schlecht wie ‚Stupor’. Versuchte ich, sie mit einem ‚Reductio’ verschwinden zu lassen, schienen sie sich nur zu vervierfachen, und einen ‚Diffindo’ oder ‚Expulso’ anzuwenden, brachte ich nicht übers Herz. Also blieb mir nur, meinen Vater mit einem ‚Protego Mobilis’ zu belegen und ihn dann mit ‚Locomotor’ durch das Fenster zu schicken, es mit einem ‚Reparo’ zu verschließen, sodass die Feen nicht hinauskonnten, die Tür einmal mehr zuzuknallen und die Treppe hinunterzujagen um meinen Vater aus der Luft zu holen.
Ich brauchte einige Zeit und eine Flasche Brandy aus dem Keller der Nachbarn (für den ich ihnen natürlich den entsprechenden Betrag und mehr in der Haushaltskasse hinterließ, und überhaupt lässt man sein Kellerfenster nicht auf!) um meinen armen Vater wiederherzustellen, dann verpasste ich ihm zwei Ohrfeigen, eine rechts, eine links, und schimpfte mit ihm, bis er zu einem kleinen Häufchen Elend auf dem Rasen zusammengesackt war. Schließlich hinterließ ich ihm die ‚Muggelnummer’, unter der er mit seinem Handy (beziehungsweise meinem, da er seins natürlich nicht dabeihatte), eine Notfalltruppe beordern konnte, und machte mich aus dem Staub, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen.
Es lief alles ganz gut, niemand hatte mein Fehlen bemerkt und die nächsten zwei Tage verliefen ruhig. Als ich eines Morgens aufwachte, saßen jedoch vier Chaosfeen auf dem Stützbalken meines Baldachins und lächelten mich an, wobei sie ihre spitzen Zähne entblößten. Und das war erst der Anfang, denn die Feen verfolgten mich von nun an überallhin. Sie waren bei der Aktion entkommen, hatten aber Schaden genommen, als sie sich unbemerkt zu dicht an die Stelle herangewagt hatten, wo die Sicherheitszauberer das Gedächtnis meines Vaters modifiziert hatten. Jetzt konnten sie sich nur noch an mich erinnern und hatten mich nach einigen Tagen ausfindig gemacht (ich habe keine Ahnung, wie). Sie schienen mir nicht feindlich gesinnt zu sein, denn sie kannten mich zwar, wussten aber nicht mehr, was ich ihnen getan hatte und schienen mich als eine Art Mutterfee anzusehen. Aber sie waren eben Chaosfeen, und sie taten alles, um ihrem Namen gerecht zu werden. Ich musste ständig dafür sorgen, dass sie entweder zweitweise betäubt oder unsichtbar waren (ja, ich bin in Schockzaubern jetzt viel besser als vorher), wenn ich mich nicht krank meldete und die Dinger wild im Schlafsaal herumflatterten und alles in Stücke rissen, was nicht magisch befestigt war (weshalb ich eine Menge Geld ausgeben musste, um die Habseligkeiten meiner Mitbewohner zu ersetzen). Ich durfte niemandem davon erzählen, denn sonst wäre ja bekannt geworden, dass ich die Regeln gebrochen hatte! Wie man sich denken kann, hielten mich die vier gründlich auf Trab und machten es für mich unmöglich, besonders viele Hausaufgaben zu erledigen.
Als ich erfuhr, dass ich nur zu den Prüfungen zugelassen würde, wenn ich diesen Brief schrieb, war ich verzweifelt, denn mir ist klar, dass die Wahrheit kaum besser ist als unentschuldigtes Nichterledigen. Jedoch bitte ich Sie, zu bedenken, dass ich das Gelände nur aus Sorge um meinen Vater verlassen habe, und darüber hinaus von der ständigen Belastung bereits ausgiebig bestraft worden bin. Ich möchte unbedingt an der Schule bleiben, denn ich lerne sehr gerne, und auch wenn ich viele Hausaufgaben verpasst habe, denke ich doch, dass ich in diesem Schuljahr ein weitaus intensiveres Trainingerhalten und mehr gelernt habe als meine Mitschüler. Bitte lassen Sie mich für die Prüfung zu, das ist meine einzige Bitte – ich werde alle Bedingungen annehmen!

Hoffnungsvoll,
Kassandra O’Lennox