Schreibwettbewerb

Gewinner vom letzten Wettbewerb: Ein gefährliches Buch

1. Platz - acm1961 aus Aslaug

Ein gefährliches Buch

Vor einigen Jahren verbrachte ich die Ferien bei entfernten Verwandten. Ich kannte Sonja und Ben zwar überhaupt nicht, aber die beiden waren sehr lieb zu mir und ich fühlte mich bei ihnen gleich wohl. Nur eins wunderte mich: Im gesamten Haus gab es nicht ein Buch, nicht mal ein Kochbuch!
Ich war schon damals eine richtige Leseratte und hatte bereits am Abend "Entzugserscheinungen". Das Buch, das ich für die Bahnfahrt mitgenommen hatte, hatte ich längst ausgelesen. Ich brauchte unbedingt neuen Lesestoff. Am nächsten Tag ging ich auf eigene Faust in die Stadt, um mir etwas zum Lesen zu besorgen. Dabei machte ich eine seltsame Entdeckung: Obwohl die Stadt nicht gerade klein war, gab es dort keine Buchhandlung. Auch in den Kaufhäusern konnte man nirgendwo Bücher kaufen, übrigens auch keine Zeitschriften. Die lokale Tageszeitung konnte man auch nirgendwo kaufen. Sie wurde ausschließlich in Schaukästen ausgehängt.
Schließlich beschloss ich, in die Stadtbücherei zu gehen, aber da erlebte ich die nächste Überraschung: Es gab gar keine Bücherei! Frustriert ging ich in den Stadtpark und setzte mich auf eine Bank. Ich konnte mir nicht vorstellen, noch über zwei Wochen ohne Bücher auszukommen. Sollte ich vielleicht meine Eltern bitten, mir ein paar Bücher zu schicken? Während ich noch darüber nachgrübelte, bemerkte ich, dass ein paar Bänke weiter - ein Buch lag. Sofort flitzte ich dorthin. Niemand war zu sehen. Egal, ich würde einfach in dem Buch lesen, bis der Besitzer zurückkam. Das Buch war ohne Zweifel alt, sehr alt sogar. Der Einband war aus schwarzem Leder, trug aber keinen Titel. Außerdem hatte es einen Goldschnitt. Es sah sehr kostbar aus. Solche Bücher hatten mich schon immer fasziniert. Gespannt schlug ich das Buch auf und bemerkte, dass es in einer Sprache geschrieben war, die mir völlig unbekannt war, oder besser gesagt in mehreren Sprachen. Die Schrift schien nicht immer die gleiche zu sein. Auf manchen Seiten waren lateinische Buchstaben zu sehen, während einige Seiten weiter ganz bestimmt kyrillische Buchstaben standen und wieder einige Seiten weiter Hieroglyphen oder so was Ähnliches.
Was war das für ein merkwürdiges Buch? War das immer der gleiche Text in verschiedenen Sprachen? Nein, das konnte nicht sein, denn die Abschnitte in den verschiedenen Schriften waren ganz unterschiedlich lang, manchmal nur eine Seite, dann wieder mehr als hundert hintereinander. Es gab keinerlei Kapitelüberschriften oder Absätze. Nur ab und zu war eine kleine Strichzeichnung zu sehen: eine Krone, ein Blatt, eine Feder... Gab es vielleicht sowas wie ein Inhaltsverzeichnis oder ein Register? Ich versuchte die erste Seite des Buches aufzuschlagen. Aber das ging irgendwie nicht. Immer, wenn ich das Buch aufschlug, waren links sofort mehrere Blätter. Auch die letzte Seite ließ sich nicht erreichen, soviel ich auch blätterte. Ich gab meine Bemühungen auf und starrte das Buch an. Das war wirklich komisch!
In diesem Augenblick wurde ich angesprochen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass neben mir auf der Bank ein Mädchen in meinem Alter Platz genommen hatte. "Hör mal", sagte sie, "ich an deiner Stelle würde das Buch so schnell wie möglich loswerden." Ich schaute sie verblüfft an. "Wirklich, ich meine es ernst", fuhr sie fort, "schmeiß das Buch weg!" "Aber wieso denn?", fragte ich. "Ich finde es..." Ich stockte. "...unheimlich", ergänzte das Mädchen trocken. "Hm, eher geheimnisvoll", sagte ich vorsichtig. Das Mädchen schüttelte den Kopf. "Das Buch ist gefährlich", sagte sie warnend.
"Hast du nicht bemerkt, dass du weder die erste noch die letzte Seite öffnen kannst?" "Doch schon", sagte ich zögernd, "aber was soll daran so gefährlich sein?" "Das Buch hat keinen Anfang und kein Ende", erklärte das Mädchen, "versuch mal, zweimal dieselbe Seite aufzuschlagen."
Ich öffnete das Buch und sah auf die linke Seitenzahl: 40622a. Seltsam, das Buch war zwar dick, aber nicht so dick. Oder war das ein Band von mehreren, die durchgehend mit Seitenzahlen versehen waren? "Schau auf die gegenüberliegende Seite", sagte das Mädchen. Das tat ich, und da stand 714. Ich wendete die Seite um und stieß auf 4999. Was war das für eine seltsame Nummerierung? Ich legte ein Stück Papier zwischen die Seiten und schlug das Buch zu. Als ich es wieder an derselben Stelle öffnete, stand links 543 und rechts 78243. Jetzt wurde mir das Buch doch ein bisschen unheimlich. Eilig blätterte ich weiter. Die Seitenzahlen schienen in keinem logischen Zusammenhang zu stehen. Auf einer Seite war wieder so eine kleine Strichzeichnung: eine Muschel. "Schau sie dir genau an", sagte das Mädchen, "du wirst sie nie wieder sehen." Ich blätterte zwei Seiten weiter und dann wieder zurück. Die Muschel war verschwunden. "So geht das immer", sagte das Mädchen heftig. "Ich dachte, ich verliere den Verstand!" "Du hattest das Buch auch mal?", fragte ich aufgeregt. "Na klar", sagte sie, "fast eine ganze Woche, und es ist mir nicht gut bekommen, das kann ich dir sagen. Viele Leute hier in der Stadt hatten es irgendwann mal und einige sind verrückt geworden, weil sie unbedingt sein Geheimnis ergründen wollten und es nicht geschafft haben." "Aber was ist denn das Geheimnis?", fragte ich gespannt. Sie zuckte die Schultern. "Das hat noch niemand herausbekommen. Aber es lässt einen nicht mehr los. Alle, die es geschafft haben, sich von dem Buch loszureißen, haben versucht, es zu vernichten, aber das geht nicht. Man kann es nicht verbrennen oder zerreißen. Es weicht auch nicht im Wasser auf. Und wenn man versucht, es zu vergraben, dann kann man es nicht mit Erde bedecken. Es kommt sofort wieder zum Vorschein. Niemand in der Stadt hat noch Lust zu lesen. Alle Buchläden mussten schließen, weil keiner mehr Bücher gekauft hat." Ich biss mir auf die Lippen. Das gefiel mir nicht. Ich las ja wirklich gerne, aber ein Buch, das solche Mätzchen machte, wollte ich nicht haben. Das Mädchen sah mich eindringlich an und sagte beschwörend: "Wirf es weg! Sofort! Und fass es nie wieder an!" Sie wies auf den Abfallbehälter neben der Bank. Ich zögerte nicht mehr. Sie hatte recht. Entschlossen stand ich auf und warf das Buch in den Müll.
Als ich mich umsah, war das Mädchen verschwunden. Komisch, wo war es so schnell hingelaufen? Zögernd verließ ich den Park und machte mich auf den Weg zu Sonja und Ben. Unterwegs kam ich an einem Schaukasten der lokalen Tageszeitung vorbei und erstarrte plötzlich. Auf dem Titelbild war das Mädchen aus dem Park zu sehen. Darüber stand in großen Buchstaben: Neues Opfer des unheimlichen Buches!
Die seit sieben Tagen verschwundene 15jährige Lena wurde gestern Abend im Stadtpark auf einer Bank tot aufgefunden. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, ist Lena verhungert und verdurstet. Als man sie fand, hielten ihre Hände das unheimliche Buch noch fest umklammert. Es verschwand, wie schon bei den letzten Opfern, sobald ihr Körper berührt wurde. Niemand weiß, wo Lena sich während der vergangenen sieben Tage aufgehalten hat. Wir trauern mit ihrer Familie um dieses liebenswerte Mädchen.
Hiermit ergeht noch einmal eine eindringliche Warnung an alle Einwohner unserer Stadt, keine Bücher, die irgendwo herumliegen, anzufassen, geschweige denn, mitzunehmen! Sollte ein Buch gesichtet werden, ist sofort die Polizei zu benachrichtigen!
Warnen Sie insbesondere Kinder und Jugendliche eindringlich vor den Gefahren des unheimlichen Buches: Es taucht an allen denkbaren Orten auf, auch in Wohnungen! Es kann unterschiedliche Formate haben, auch Zeitschriftengröße! Es ist stets schwarz und mit Goldschnitt eingebunden! Es trägt niemals einen Titel! Es sieht immer sehr alt und wertvoll aus! Das verleitet dazu, es spontan zu öffnen. Die wenigen Zeugen, die sich erfolgreich von dem Buch befreien konnten, berichten, dass man sich seinem Bann nicht entziehen kann.
Mir wurde schwindelig und ich schaffte es mit Mühe und Not bis zu Sonja und Ben. Die beiden waren völlig entsetzt über mein Erlebnis und riefen sofort die Polizei. Gemeinsam fuhren wir in den Stadtpark. Aber der Papierkorb, in den ich das Buch geworfen hatte, war leer. Das Buch war spurlos verschwunden...