Der Baum Yggdrasil
von Tolreda aus Gunnlag


Im Zentrum von Mittelerde steht ein gewaltiger Baum, die Weltesche Yggdrasil. Ihre Krone ragt weit in den Himmel und das Blätterdach breitet sich über die ganze Welt. Eine ihrer drei Wurzeln reicht tief hinab bis nach Nebelheim. Die zweite zieht sich hin nach Riesenheim. Unter ihr liegt ein Brunnen, dessen Wasser jedem, der davon trinkt, Weißheit beschert. Die dritte Wurzel ist in Asgard verankert und endet am Urdbrunen. Dort wohnen drei geheimnisvolle Mädchen, die Nornen Urd, Merdandi und Skuld, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft symbolisieren. Sie bestimmen das Schicksal der Menschen in Mittelerde.

Als Brunhild den Baum Yggdrasil zum erstenmal sah, versetzte er sie in ehrfürchtiges Erstaunen. Sie vermochte kaum zu glauben, daß etwas Lebendiges so gewaltig groß sein konnte. Die Zweige der Esche reichten hunderte von Fuß in den Himmel und seine Seitenäste tauchten ganze Äcker in Schatten.
Sie stand staunend da und dann hörte -oder fühlte- sie ihn ganz deutlich nach ihr rufen.
Zögernd näherte Brunhild sich dem Stamm des Baumes, streckte zaghaft die Hand aus und berührte seine Rinde.

Leise hörte sie Stimmen: "Willkommen Brunhild". Verwirrt schaute sie nach oben. Im Geäst der Esche erblickte sie viele kleine Vögel, Spatzen, Finken, Lerchen. Aufgeregt schwirrten sie umher und ihre kleinen Schnäbel plapperten unentwegt. "Ihr könnt sprechen?" fragte Brunhild erstaunt. "Natürlich" antwortete eine Lerche, "wir warten schon lange auf dich".
"Aber jetzt bin ich da" antwortete Brunhild. "Es ist höchste Zeit," zwitscherte die kleine Lerche weiter, "du mußt deine Prüfung zur Walkyria eblegen". "Dafür bin ich hergekommen".

Brunhild begann, den Baum zu ersteigen. Je höher sie kam, um so dunkler wurde es. Dichtes Astwerk hielt das Licht ab. Als sie zu einer Astgabel kam, die sich als Sitz anbot, war sie am Ziel. Brunhild setzte sich auf die staubige Rinde, breitete die Arme aus und sprach leise: "Weltenbaum, wirst du mich für eine Nacht aufnehmen?".
Leise rauschten die Blätter im Wind und Brunhild spürte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Es wurde still um sie herum. Sie schloß die Augen und verfiel in einen Traum. In der Ferne schrie ein Käutzchen.

Vor Brunhilds Geist zogen Bilder vorbei; es wurde hell und in einem hölzernen Wagen, gezogen von sieben prächtigen Pferden, kam Wodan, der Göttervater, auf einem Lichtstrahl herangeschwebt. Funkensprühend hielt das Gespann an.
Wodan, mächtig und groß, gehüllt in einen schwarzen Umhang, stieg aus und legte drei Runen vor Brunhild hin. Die erste Rune, Uruz, verlieh Vitalität, Mut und Körperkraft. Die zweite, Fehu, stand für Besitz, Reichtum und Fruchtbarkeit. Die dritte Rune, Dagaz, symbolisierte Erleuchtung, Glück und Wachstum.
Brunhild mußte sich entscheiden. Besitztum ist vergänglich und Glück oftmals nur Trug. Brunhild entschied sich für die Rune Uruz, eine Walkyria benötigt Mut und Kraft.
Wodan verneigte sich, stieg wortlos in seinen Wagen und brauste davon.

Langsam erwachte Brunhild, der Morgen dämmerte bereits und die ersten Sonnenstrahlen suchten sich den Weg durch das dichte Laubwerkdes Weltenbaums. Langsam, noch immer benommen von Wodans Erscheinung, stieg Brunhild herab. Der freudige Gesang der Vögel begleitete sie.
Als Brunhild wieder festen Boden unter den Füßen verspürte, sah sie zu ihrem Erstaunen, daß an dem gewaltigen Stamm der Esche ein Schwert lehnte.
Sie hatte die Prüfung zur Walkyria bestanden, hatte richtig gewählt.

Dankbar schaute Brunhild zu dem Baum empor. Ihr schien, als spüre sie das Leben, das in dem Stamm pulsierte, spürte die Kraft und die Wärme, die von ihm ausging. Sie war ein Teil von ihm geworden, die Macht des Baumes floß auch durch sie.
Mit dem schwert in der Hand begab sich Brunhild auf die weite Reise nach Walhalla, zu Wodans Sitz in Asgard.

Leise seufzend, und im Einklang mit der Musik des Windes, rauschten die Zweige des Weltenbaums Yggdrasil.






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